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Die Unterbringung in einer betreuten Wohnanlage -wegen Demenz- als außergewöhnliche Belastung – Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 20.09.2017 – Az. 9 K 257/16

Leitsätzliches:

1) Im Falle einer Heimunterbringung kann der Tatbestand des § 33 EStG (außergewöhnliche Belastungen) erfüllt sein, wenn der dortige Aufenthalt ausschließlich krankheitsbedingt ist.
2) Bei dieser Unterbringung ist eine Unterscheidung zwischen “normaler” und altersbedingter Erkrankung nicht vorzunehmen. Auch Krankheiten wie Demenz, die im Alter häufig auftreten, können eine krankheitsbedingte Unterbringung rechtfertigen.
3) Das eine ständige Pflegebedürftigkeit noch nicht gegeben ist, muss dem nicht entgegenstehen.

Niedersächsisches Finanzgericht

Datum: 20.09.2017

Gericht: Niedersächsisches FG

Spruchkörper: 9 K

Entscheidungsart: Urteil

Aktenzeichen: 9 K 257/16

Gründe:

Streitig ist die steuerliche Berücksichtigung von Aufwendungen im Zusammenhang mit der Unterbringung in einem Wohnpark (“Betreutes Wohnen”) als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG.

Die Klägerin ist eine Erbengemeinschaft nach dem am 4. November 2013 verstorbenen … (geb. 15. Februar 1920, im Folgenden: S), bestehend aus ….

Am 23. November 2009 schloss S mit der Wohnpark G. Verwaltungsgesellschaft mbH einen Wohnungsmietvertrag für betreutes Wohnen im Wohnpark G. ab. Die Wohnanlage Wohnpark G. bietet die Möglichkeit des betreuten Wohnens mit Sozialstation und Betreuung oder eine andere entsprechende Institution. Grundgedanke der Wohnanlage ist es, älteren Menschen in altengerechten Wohnungen die Möglichkeit zu geben, in eigener Häuslichkeit eine autonome Lebensführung aufrecht zu erhalten und ihr Leben solange wie möglich eigenständig und nach ihren individuellen Bedürfnissen zu führen. Der Wohnpark G. bietet zudem die Möglichkeit, von einem Pflegedienst im Haus betreut zu werden. Über die Betreuungsleistung (Grundservice oder Basisleistung) ist ein separater Vertrag abzuschließen. Einen solchen Servicevertrag für betreutes Wohnen im Wohnpark G. schloss S ebenfalls am 23. November 2009 ab. Mit diesem Vertrag wird nach der Vorbemerkung ein Angebot ambulanter sozialer Dienstleistungen garantiert, dass allen Bewohner und Bewohnerinnen die Möglichkeit gibt, ihren privaten Haushalt solange wie möglich selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu führen. Im Servicevertrag ist der Betreuungsumfang geregelt. Im Wesentlichen umfasst dieser folgende Leistungen:

persönliche Beratung bei Problemen

täglich besetzter Empfangsbereich

Hausnotruf

Unterstützung und Pflege bei Krankheit (bis zu 14 Tage im Jahr)

Pflegehilfsmittelverleih.

Aus diesem Servicevertrag entstanden S im Streitjahr 2010 insgesamt Kosten in Höhe von 1.172,53 €, im Wesentlichen für Service und Reinigung sowie Hausnotruf.

Aus weiteren vorgelegten Rechnungen ist ersichtlich, dass S auch die im Restaurant angebotene Verpflegung, den Wäschedienst und einen Begleitservice in Anspruch nahm.

Nach den Angaben des Prozessvertreters der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hatte S daneben noch einen weiteren Vertrag mit einer Pflegedienst GbR abgeschlossen, die ebenfalls in den Räumlichkeiten des Wohnparks tätig war. Dieser Pflegedienst übernahm danach die medizinischen Leistungen gegenüber S. Die entstandenen Kosten übernahmen Krankenversicherung und Beihilfe. Dieser Pflegedienst war nach der Schilderung 24 Stunden erreichbar.

Nachts wurde der Wohnpark nach Auskunft des Prozessvertreters kontrolliert, damit niemand das Haus unerlaubt verlässt. Es wurde dabei sichergestellt, dass sich alle Bewohner im Haus befinden. Die Medikamenteneinnahme bei S wurde vom Pflegedienst überwacht und an einem schwarzen Brett im Zimmer protokolliert.

Obwohl der vorgenannte Wohnungsmietvertrag vom 23. September 2009 den Mietbeginn 1. Dezember 2009 vorsah, zog S nach Aktenlage erst zum 1. Februar 2010 in die gemieteten Räumlichkeiten ein. Erstmals für den Monat Februar 2010 wurde die vereinbarte Miete überwiesen.

Mit der Einkommensteuererklärung 2010 begehrte S die Berücksichtigung von außergewöhnlichen Belastungen für das betreute Wohnen im Wohnpark G. in Höhe von 12.680 €. Dieser Betrag errechnete sich ausweislich einer Anlage zur Einkommensteuererklärung aus den Gesamtaufwendungen für Miete und Serviceleistungen in Höhe von insgesamt 20.684,63 € abzüglich einer Haushaltsersparnis in Höhe von 8.004 €.

Der Steuererklärung beigefügt war ein Attest der Hausärztin Dr. E. B. (ohne Datum). Hierin heißt es wörtlich:

“Der o.g. Patient befindet sich seit vielen Jahren in unserer hausärztlichen Betreuung.

Diagnose: Hypertonie, Glaukom, Z.n. Prostata-CA, KHK, rezidiv. Ekzeme, zunehmende Vergesslichkeit, Z.n. Hirninfakt, Carotisstenose, bds.

Nach dem Tod der Ehefrau im Dezember 2009 entwickelte sich bei Herrn S. eine reaktive Depression mit zunehmender Vergesslichkeit. Zur Vermeidung von Eigengefährdung wurde ein Umzug in eine betreute Seniorenwohnanlage erforderlich.

Eine regelmäßige Bereuung und Überwachung der Einhaltung des Medikamentenplanes ist auch weiterhin auf Dauer erforderlich.

Unterschrift”.

Das beklagte Finanzamt erkannte diese Aufwendungen in Höhe von 12.680,63 € nicht als außergewöhnliche Belastungen an, da nach seiner Auffassung der Aufenthalt für das betreute Wohnen nicht krankheitsbedingt, sondern altersbedingt erfolgte.

Der hiergegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg. Der Beklagte begründete die Zurückweisung des Einspruchs damit, dass Anlass und Grund für den Umzug die ärztliche Empfehlung der Hausärztin und nicht eine durch Erkrankung eingetretene Pflegebedürftigkeit gewesen sei. Ein Nachweis über die Pflegebedürftigkeit des S liege nicht vor. Er sei weder in Pflegestufen eingruppiert, noch habe er einen Behindertenausweis bzw. einen Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes, aus dem das Merkzeichen “H” hervorgehe. Auch für eine krankheitsbedingte Heimunterbringung lägen die Voraussetzungen nicht vor. Das Attest der Hausarztpraxis reiche als Nachweis nicht aus, da die Diagnose auf altersbedingte Leiden hinweise. Die Aufwendungen des S für die Unterbringung im betreuten Wohnen hätten auch ihren Charakter als übliche Aufwendungen der Lebensführung nicht verloren, da S auch während des Heimaufenthalts keine Pflegeleistungen in Anspruch genommen habe.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Einspruchsbescheid vom 30. August 2016 Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren aus dem Einspruchsverfahren weiterverfolgt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen Folgendes vor:

S sei ausweislich des ärztlichen Gutachtens depressiv gewesen und es habe eine akute Eigengefährdung bestanden. Aufgrund dieser Diagnose sei ärztlich der Aufenthalt in einer betreuten Seniorenwohnanlage für erforderlich attestiert worden. Es handele sich somit dem Grunde nach vorliegend um eine krankheitsbedingte Heimunterbringung. Der Aufenthalt in einem Seniorenwohnheim könne auch dann krankheitsbedingt sein, wenn keine zusätzlichen Pflegekosten entstanden seien und kein Merkzeichen “H” oder “BI” im Schwerbehindertenausweis festgestellt sei. S habe sich ausweislich des Attestes bereits vieljährig in ärztlicher Behandlung befunden. Die im Attest geschilderten Krankheiten seien nicht kurzfristig aufgetreten, sondern gäben die vieljährige gesundheitliche Entwicklung des S wieder. Die für den S attestierten Krankheiten hätten bereits vor dessen Heimaufenthalt vorgelegen. Für S sei ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Wohnen nicht möglich gewesen. In der Sache berufen sich die Kläger auf das BFH – Urteil vom 13. Oktober 2010 (VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010). Bezüglich des weiteren Vorbringens wird auf die Schriftsätze vom 8. November 2016, 7. Februar 2017 bzw. 15. Mai 2017 Bezug genommen.

Die Klägerin hat sich hinsichtlich der Höhe der geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen den Ausführungen des Beklagten im Schriftsatz vom 15. September 2017 angeschlossen. Der anzusetzende Betrag von 12.357,71 € ist somit zwischen den Beteiligten unstreitig.

Die Klägerin beantragt,

weitere 12.357,71 € (Gesamtaufwendungen 20.361,71 € abzgl. Haushaltsersparnis von 8.004,00 €) als außergewöhnliche Belastungen gemäß § 33 EStG anzuerkennen und die Einkommensteuer 2010 entsprechend herabzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung des Klageabweisungsantrages verweist der Beklagte zunächst auf seinen Einspruchsbescheid vom 30. August 2016. Das beklagte Finanzamt verbleibt bei seiner Auffassung, dass der Umzug des S in die Seniorenwohnanlage lediglich altersbedingt und nicht krankheitsbedingt gewesen sei. Ein hinreichender Zusammenhang der Aufwendungen für die Unterbringung mit der Heilung der Krankheiten des S sei nicht erkennbar. Inwieweit die reaktive Depression des S ausgeprägt gewesen sei, lasse sich anhand des vorgelegten Attestes nicht erkennen. Weitere Medikamenten- oder Therapierechnungen oder eine Psychotherapie zur Vermeidung von Eigengefährdung seien nicht dargelegt und nachgewiesen worden. Daher müsse davon ausgegangen werden, dass kein ausreichender Schweregrad für eine krankheitsbedingte Unterbringung bestanden habe. Außerdem weist der Beklagte darauf hin, dass S für das betreute Wohnen im Wohnpark G. zwei verschiedene Verträge abgeschlossen habe. Der Wohnungsmietvertag habe lediglich die Überlassung der Räumlichkeit gegen Mietzins zum Gegenstand gehabt. Aus den Verträgen sei ersichtlich, dass weiterhin ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Wohnen des S möglich gewesen sei. Ein Zusammenhang mit der Heilung seiner Krankheiten sei jedenfalls bei einem betreuten Wohnen, wie es nach den Verträgen angestrebt worden sei, nicht ersichtlich. Die aufgeführten Krankheiten des S hätten nicht zwangsläufig einer besonderen Unterbringung in einem Seniorenheim bedurft. S scheine vielmehr in dem bei Personen seines Alters (90 Jahre) üblichen Umfang auf Unterstützung angewiesen und aus diesem Grund in das Wohnheim umgezogen zu sein. Es handele sich ausschließlich um altersbedingt auftretende Erkrankungen. Das gelte auch für das ärztlich bescheinigte “beginnende dementielle Syndrom”. Dieser allgemeine intellektuelle Abbau treffe viele ältere Menschen und sei daher als “Altersgebrechen” einzustufen. Lediglich die Prostataerkrankung sei keine typische Alterserkrankung. Diese Erkrankung sei aber nicht ursächlich für die Aufnahme in dem “Betreuten Wohnen”. Nach dem vorgelegten Attest sei Vergesslichkeit und Hilflosigkeit nach dem Tod der Ehefrau der Grund gewesen. Das seien jedoch keine Erkrankungen, die eine Unterbringung aus Krankheitsgründen rechtfertigten. Altersbedingte Erkrankungen seien insoweit nicht relevant. Im Ergebnis handele es sich um eine altersbedingte Unterbringung im Betreuten Wohnen.

Eine ausschließlich krankheitsbedingte Unterbringung im Wohnpark G. wäre jedenfalls nicht begründet. Das vorgelegte Attest sei insoweit nicht ausreichend. Außerdem handele es sich nicht um ein fachärztliches Attest.

Auch das von der Klägerin angeführte BFH – Urteil vom 13. Oktober 2010 (a.a.O.) führe nicht zu einer Anerkennung der Aufwendungen als außergewöhnliche Belastungen. Der Beklagte erklärt sich dagegen bereit, für die aus dem Servicevertrag in Anspruch genommenen Leistungen in Höhe von insgesamt 1.172,53 € die Steuerermäßigung nach § 35a EStG noch zu gewähren.

Der Berichterstatter hat es für sachdienlich erachtet, dass die den verstorbenen S behandelnde Ärztin Frau Dr. E. B. ihr Attest zur Vorlage beim Finanzamt (ohne Datum) ergänzt, und zwar unter Berücksichtigung der folgenden Fragen:

  1. War die Unterbringung in der betreuten Wohnanlage krankheitsbedingt (nicht altersbedingt) erforderlich gewesen?
  2. wenn ja, welche konkreten Krankheiten haben die Unterbringung in einer betreuten Wohnanlage erforderlich gemacht?
  3. Aus welchen Gründen war ein “betreutes Wohnen” und nicht die Unterbringung in einem Pflegeheim erforderlich? Welche krankheitsbedingten Folgen sollten dadurch gelindert/vermieden werden?
  4. War krankheitsbedingt ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung nicht mehr möglich?
  5. War die Unterbringung in einer betreuten Wohnanlage – vor dem Umzug – von ärztlicher Seite angeraten oder empfohlen worden? (ggf. in welcher Form?).

Die behandelnde Ärztin Frau Dr. E. B., die S seit 1983 als Patient hausärztlich betreut hat, hat daraufhin mit an das Gericht gerichteten Schreiben vom 23. August 2017 zu den einzelnen Fragen wie folgt Stellung genommen:

“ad 1. Die Unterbringung in der betreuten Wohnanlage von Herrn S im Frühjahr 2010 war krankheitsbedingt erforderlich geworden.

ad 2. Hauptgrund für den Umzug in eine betreute Wohnanlage waren häufige Phasen von Desorientiertheit, Vergesslichkeit und Hilfebedürftigkeit nach dem Tod der Ehefrau im Dezember 2009. Es bestand schon damals eine Polymorbidität mit einer erforderlichen Polypharmazie (Mehrfacherkrankung, die eine Einnahme von mehr als 5 verschiedenen Medikamenten erforderlich machte).

Konkrete Krankheiten, die die Polypharmazie erforderlich machten waren

  1. eine KHK (Koronale Herzerkrankung, Arterienverkalkung)
  2. Zustand nach Insult 1984 mit erforderlicher Carotis OP rechts (Schlaganfall 1984 mit erfolgter OP an der Halsschlagader zur Vorbeugung weiterer Schlaganfälle)
  3. Eine Hyperlipidämie (erhöhte Konzentration des Cholesterins und der Triglyceride, Lipoproteine)
  4. Hypertonus (Bluthochdruck)
  5. Prostatakarzinom mit Z.n. OP, und androgener Therapie seit 1996 mit 1/2-jährlichem Kontrollbedarf (Prostatakrebs, dessen Tumor 1996 operativ entfernt und anschließend hormonell therapiert wurde)
  6. Kompensierte Herzinsuffizienz bei vorbestehend KHK und Hypertonus (Herzschwäche bei vorliegender Arterienverkaltung und Bluthochdruck)
  7. Zusätzlich seit Dezember 2009, nach dem Tod der Ehefrau, die das Leben weitestgehend für ihn strukturiert hatte, kamen Phasen von Vergesslichkeit, Desorientiertheit im Sinne eines beginnenden dementiellen Syndroms hinzu.

ad 3. Wie typisch für dementielle Syndrome bestanden Phasen, in denen S sehr gut allein zu Recht kam, allein spazieren gehen konnte und auch in seine Wohnung zurückfand. Als auch Phasen von Desorientiertheit mit Vergessen von Nahrungsaufnahme und Verlust des Zeitgefühls. Bis auf regelmäßiges Stellen der Medikation und Kontrolle der regelmäßigen Einnahme als auch Kontrolle der regelmäßigen Körperpflege war S meistens nicht auf Pflege angewiesen. Regelmäßige Gabe von Mahlzeiten und vor allem Kontrolle des Einnehmens der Mahlzeiten zu regelmäßigen Zeiten, waren des Öfteren erforderlich. Aufgrund dieser speziellen Situation war ein Umzug in ein Betreutes Wohnen für S einerseits erforderlich, zweitens auch ausreichend. Der Umzug in ein Pflegeheim war nicht erforderlich.

ad 4. Aufgrund der zunehmenden Vergesslichkeit, bei beginnendem dementiellen Syndroms und der phasenweisen Desorientiertheit war ein selbstbestimmtes Wohnen und Leben in einer eigenen Wohnung nicht mehr möglich.

ad 5. Die Unterbringung in einer betreuten Anlage war von ärztlicher Seite empfohlen worden, um eine regelmäßige Kontrolle der Medikamentengabe und -einnahme, als auch der regelmäßigen Nahrungsaufnahme sowie Kontrolle der Körperhygiene am Tage und auch nachts sicher zu stellen.”

Gründe:

  • Die Klage ist begründet.

    Der Einkommensteuerbescheid 2010 vom 31. Oktober 2011 und der Einspruchsbescheid vom 30. August 2016 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung -FGO-).

    1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands erwachsen (außergewöhnliche Belastung). Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen, § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind Aufwendungen außergewöhnlich, wenn sie nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen liegen. Die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind, sind aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen (vgl. BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456).

      aa. In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass Krankheitskosten dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Dies gilt auch für Aufwendungen für die Pflege eines Steuerpflichtigen infolge einer Krankheit. Entsprechend sind auch krankheitsbedingte Unterbringungskosten in einer dafür vorgesehenen Einrichtung aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig und daher dem Grunde nach als außergewöhnliche Belastungen im Sinne des § 33 EStG zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456), und zwar unabhängig davon, ob neben dem Pauschalentgelt gesondert Pflegekosten in Rechnung gestellt werden (BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456; BFH-Urteil vom 13. Oktober 2010 VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010). Es gelten die allgemeinen Grundsätze über die Abziehbarkeit von Krankheitskosten (BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456; BFH-Urteil vom 13. Oktober 2010 VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010).

      Zu den Krankheitskosten gehören die Aufwendungen, die unmittelbar zum Zwecke der Heilung der Krankheit oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, wie insbesondere Kosten für die eigentliche Heilbehandlung und eine krankheitsbedingte Unterbringung (z.B. BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456; BFH-Urteil vom 26. Juni 1992 III R 83/91, BStBl II 1993, 212). Solche Aufwendungen werden von der Rechtsprechung als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit dem Grunde und der Höhe nach bedarf. Erforderlich ist lediglich, dass die Aufwendungen mit der Krankheit und der zu ihrer Heilung oder Linderung notwendigen Behandlung in einem adäquaten Zusammenhang stehen und nicht außerhalb des Üblichen liegen (z.B. BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456; BFH-Urteil vom 22. Oktober 1996 III R 240/94, BStBl II 1997, 346). Erfasst wird nicht nur das medizinisch Notwendige im Sinne einer Mindestversorgung. Dem Grunde und der Höhe nach zwangsläufig sind vielmehr die medizinisch indizierten diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen, die in einem Erkrankungsfall hinreichend gerechtfertigt sind, es sei denn, der erforderliche Aufwand steht zum tatsächlichen in einem offensichtlichen Missverhältnis (BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456). In einem solchen Fall fehlt es an der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erforderlichen Angemessenheit (BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456).

      Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs rechnen jedoch zu den üblichen Aufwendungen der Lebensführung regelmäßig auch die Kosten für die altersbedingte Unterbringung in einem Altersheim (vgl. BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456; BFH-Urteil vom 18. April 2002 III R 15/00, BStBl II 2003, 70). Allerdings kann auch im Falle der Heimunterbringung der Tatbestand des § 33 EStG ausnahmsweise erfüllt sein, wenn der dortige Aufenthalt ausschließlich durch eine Krankheit veranlasst ist. Denn zu den Krankheitskosten gehören, wie oben bereits dargelegt, nicht nur die Aufwendungen für medizinische Leistungen im engeren Sinn, sondern auch solche für eine krankheitsbedingte Unterbringung (BFH-Urteile vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456; vom 13. Oktober 2010 VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010; vom 18. April 2002 III R 15/00, BStBl II 2003, 70).

      bb. Nach diesen Grundsätzen stellen die Aufwendungen des S Krankheitskosten dar, die dem Grunde nach als außergewöhnliche Belastungen abzugsfähig sind.

      (1) Nach Überzeugung des Senats ergibt sich insbesondere aus der im Klageverfahren eingereichten ergänzenden Stellungnahme der behandelnden Hausärztin vom 23. August 2017 eindeutig, dass die Unterbringung des S in der Seniorenwohnanlage im Streitjahr krankheitsbedingt und nicht altersbedingt erforderlich war (vgl. ad 1 der ergänzenden Stellungnahme).

      Ausweislich der ärztlichen Stellungnahme waren Hauptgrund für den Umzug in eine betreute Wohnanlage häufige Phasen von Vergesslichkeit und Desorientiertheit im Sinne eines beginnenden dementiellen Syndroms nach dem Tod der Ehefrau des S im Dezember 2009 verbunden mit einer Hilfebedürftigkeit. Der Begriff “Dementielles Syndrom” (chronisches hirnorganisches Psychosyndrom) wird oft gleichbedeutend mit Demenz verwendet und steht dabei für einen allgemeinen intellektuellen Abbau. Dieser beginnt meist mit Gedächtnis- und Orientierungsstörungen sowie affektiven (emotionalen) Beeinträchtigungen. Ein Dementielles Syndrom tritt am häufigsten in Form der Alzheimer-Krankheit auf. Danach geht der Senat davon aus, dass die behandelnde Ärztin eine beginnende Demenz bei S diagnostiziert hat und deshalb die Unterbringung in einer Wohnanlage für betreutes Wohnen von ärztlicher Seite empfohlen hat, weil nach ihrer Einschätzung ein selbstbestimmtes Wohnen und Leben in einer eigenen Wohnung nicht mehr möglich war (vgl. ad. 4 der ergänzenden Stellungnahme). Mit der Unterbringung sollte die regelmäßige Nahrungs- und Medikamenteneinnahme sowie die Körperpflege sichergestellt werden (vgl. ad 5 der ergänzenden Stellungnahme). Die von der Ärztin aufgelisteten Vorerkrankungen dienten dagegen allein der Erläuterung, warum Medikamente in erhöhter Zahl eingenommen werden mussten.

      Die Sichtweise des Beklagten, der eine Unterscheidung zwischen “normalen” und altersbedingten Erkrankungen vorzunehmen scheint, vermag der Senat nicht zu folgen. Auch häufig im Alter auftretende Krankheiten wie die Demenz können eine krankheitsbedingte Unterbringung rechtfertigen.

      Der Senat hat keine Anhaltspunkte, an der Objektivität der Ärztin und der inhaltlichen Richtigkeit ihrer ärztlichen Stellungnahme zu zweifeln. Die Einholung eines amtsärztlichen Attests ist darüber hinaus nicht erforderlich (BFH-Urteile vom 13. Oktober 2010 VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010; vom 23. Mai 2002 III R 24/01, BStBl II 2002, 567). Der Senat erachtet es angesichts des zwischenzeitlichen Versterbens des S weder für erforderlich noch für geboten, eine zusätzliche fachärztliche Begutachtung nach Aktenlage (so die Anregung des Beklagten) vornehmen zu lassen.

      (2) Die Aufwendungen der Unterbringung in einer Wohnanlage für betreutes Wohnen stehen auch mit der Krankheit (Demenz/dementielles Syndrom) und der zu ihrer Heilung oder Linderung notwendigen Behandlung in einem adäquaten Zusammenhang. Sie liegen nicht außerhalb des Üblichen (vgl. zu den Anforderungen BFH-Urteil vom 14. November 2013 VI R 20/12, BStBl II 2014, 456).

      Nach der ärztlichen Beurteilung ist bei dem diagnostizierten Krankheitsbild ein selbstbestimmtes Wohnen in einer eigenen Wohnung nicht mehr möglich. Die Unterbringung in einer Wohnanlage für betreutes Wohnung ermöglicht dagegen die Sicherstellung der ständigen Überwachung hinsichtlich Anwesenheit, Nahrungs- und Medikamenteneinnahme sowie Körperpflege. Zudem bietet z.B. die Möglichkeit der Inanspruchnahme des angebotenen Begleitservice beim Verlassen der Wohnanlage Schutz vor der Gefahr, dass S bei plötzlich auftretenden Desorientiertheit nicht selbst zur Anlage zurückfindet.

      Die Unterbringung in der Wohnanlage für betreutes Wohnen, verbunden mit den angebotenen und auch tatsächlich in Anspruch genommenen – über das Angebot des abgeschlossenen Basisservicevertrags hinausgehenden – Service- und Pflegeleistungen, lindert damit die krankheitsbedingt auftretenden Symptome und bietet ausreichend Schutz vor der befürchteten Eigengefährdung. Die streitbefangenen Aufwendungen stehen damit auch in unmittelbarem und adäquatem Zusammenhang mit dem diagnostizierten Krankheitsbild und dessen Linderung. In vergleichbarer Weise hat der BFH im Übrigen den erforderlichen adäquaten Zusammenhang zwischen der Unterbringung in einem Seniorenheim im Bereich des Betreuten Wohnens und einer psychischen Erkrankung bejaht (BFH-Urteil vom 13. Oktober 2010 VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010).

      Dass die geltend gemachten Kosten außerhalb des Üblichen liegen, hat der Beklagte nicht gerügt und ist auch sonst nicht ersichtlich.

      (3) Der Beurteilung als krankheitsbedingter Unterbringung steht im Übrigen nicht entgegen, dass S keine Pflegekosten in Rechnung gestellt worden sind. Zwar ist der Abzug von Unterbringungskosten als außergewöhnliche Belastung vornehmlich bei krankheitsbedingter Pflegebedürftigkeit von Bedeutung (BFH-Urteile vom 18. Dezember 2008 III R 12/07, BFH/NV 2009, 1102). Das bedeutet jedoch nicht, wie der Beklagte offensichtlich meint, dass die Pflegebedürftigkeit notwendige Voraussetzung für den Abzug ist. Vielmehr kann, wie der Streitfall zeigt, der Aufenthalt in einem Seniorenheim auch dann krankheitsbedingt sein, wenn eine ständige Pflegebedürftigkeit (noch) nicht gegeben ist (so auch BFH-Urteil vom 13. Oktober 2010 VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010).

      (4) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist vorliegend auch nicht entscheidungserheblich, dass Wohnungsmiet- und Servicevertrag bereits am 23. November 2009 abgeschlossen wurden.

      Selbst wenn man die ärztlichen Stellungnahmen so versteht, dass sich die ersten Anzeichen für das diagnostizierte dementielle Syndrom erstmals nach dem Tod der Ehefrau des S im Dezember 2009 zeigten, wäre die Unterbringung von Beginn an weiterhin krankheitsbedingt erforderlich gewesen, denn der tatsächliche Umzug erfolgte erst im Februar 2010.

      Damit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von dem Sachverhalt, der der Entscheidung des 12. Senats des Niedersächsischen FG vom 15. Dezember 2015 (12 K 206/14, EFG 2016, 647; rechtskräftig nach Rücknahme der zunächst eingelegten, unter dem Az. VI R 3/16 anhängigen Revision) zugrunde lag. Im dortigen Streitfall stellte das FG fest, dass eine Unterbringung in einem Altenheim zunächst altersbedingt erfolgte und der Betroffene erst während des Heimaufenthalts krank und pflegebedürftig wurde. Vorliegend war die Unterbringung von Beginn an ausschließlich krankheitsbedingt erforderlich gewesen. Der Senat setzt sich damit nicht in Widerspruch zu der Rechtsprechung des 12. Senats des Niedersächsischen FG. Der Senat hatte aufgrund des unterschiedlichen Sachverhalts keine Veranlassung darüber zu entscheiden, ob er den Rechtsgrundsätzen aus dem Urteil vom 15. Dezember 2015 folgt.

      Davon abgesehen weist der Senat darauf hin, dass der VI. Senat des BFH in seinem Urteil vom 15. April 2010 (VI R 51/09, BStBl II 2010, 794) ausdrücklich offengelassen hat, ob die Kosten einer Heimunterbringung, abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, auch dann zu berücksichtigen sind, wenn ein Steuerpflichtiger erst nach dem Umzug in das Altenheim krank und pflegebedürftig geworden ist.

      cc. Damit stellen die geltend gemachten Miet- und Servicekosten (20.361,71 €) dem Grunde nach außergewöhnliche Belastungen dar.

      Werden Kosten einer Heimunterbringung dem Grund nach als außergewöhnliche Belastung (Krankheitskosten) berücksichtigt, sind sie nur insoweit gemäß § 33 Abs. 1 EStG abziehbar, als sie die zumutbare Belastung (§ 33 Abs. 3 EStG) sowie die sog. Haushaltsersparnis übersteigen (BFH-Urteil vom 15. April 2010 VI R 51/09, BStBl II 2010, 794).

      Im Streitfall hat die Klägerin die Haushaltsersparnis entsprechend dem in § 33a Abs. 1 EStG vorgesehenen Höchstbetrag zu Recht auf 8.004,00 € geschätzt und von den Miet- und Servicekosten abgesetzt. Dies ist nicht zu beanstanden (BFH-Urteil vom 13. Oktober 2010 VI R 38/09, BStBl II 2011, 1010). Auch der Abzug der zumutbaren Eigenbelastung (§ 33 Abs. 3 EStG) ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

      Nach alledem konnte die Klage in vollem Umfang Erfolg haben.

  • Die Neuberechnung bzw. Neufestsetzung der Einkommensteuer 2010 wird dem beklagten Finanzamt gemäß § 100 Abs. 2 Sätze 2 und 3 FGO übertragen.
  • Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.
  • Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.
  • Der Senat hatte keine Veranlassung, die Revision zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 115 Abs. 2 FGO) nicht vorliegen. Der Senat hat sich mit seiner Entscheidung insbesondere an den Vorgaben der bisher zu der Problematik ergangenen BFH-Rechtsprechung ausgerichtet und ist von diesen Rechtsprechungsgrundsätzen nicht abgewichen.