Leitsätzliches:
2) Erfolgt die Ausschlagung durch den Betreuer des Sozialhilfeempfängers, so kann diesem die nach § 1822 Nr. 2 BGB notwendige vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nicht erteilt werden.
Oberlandesgericht Hamm
Datum: 16.07.2009
Gericht: OLG Hamm
Spruchkörper: I 15
Entscheidungsart: Beschluss
Aktenzeichen: I 15 Wx 85/09
Gründe:
I.)
Der Betroffene ist infolge eines Verkehrsunfalls schwerstbehindert. Er lebt in einem Heim und besucht eine beschützende Werkstatt. Zu den insoweit entstehenden Kosten, die er nur teilweise aus eigenem Einkommen aufbringen kann, leistet der Landschaftsverband als Träger der Sozialhilfe einen Zuschuss.
Für den Betroffenen wurde 2002 eine Betreuung u.a. mit dem Aufgabenkreis Vermögenssorge eingerichtet. Betreuerin war zunächst die Mutter des Betroffenen. Nachdem diese am 17.08.2008 verstarb, wurde der Beteiligte zu 3), der Bruder des Betroffenen zum Betreuer bestellt.
Gesetzliche Erben nach ihrer Mutter sind der Betroffene und der Beteiligte zu 3) zu je 1/2. Der Nachlass besteht im Wesentlichen aus einer Eigentumswohnung und Fondsanteilen. Der Nachlasswert beträgt jedenfalls 50.000 €. Zur Regelung der Nachlassangelegenheit bestellte das Amtsgericht den Beteiligten zu 2), einen Onkel des Betroffenen, zum Ergänzungsbetreuer.
Durch notariell beglaubigte Erklärung vom 29.09.2009 erklärte der Beteiligte zu 2) für den Betroffenen die Ausschlagung der Erbschaft und ließ für die Erklärung die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung beantragen. Mit dem Genehmigungsantrag wurde dem Vormundschaftsgericht ein Vertrag zwischen dem Beteiligten zu 3) und dem Betroffenen -vertreten durch den Beteiligten zu 2)- vorgelegt. In diesem verpflichtet sich der Beteiligte zu 3), dem Betroffenen im Hinblick auf die Ausschlagung und vorbehaltlich der vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung “nach billigem Ermessen solche Geld- und Sachleistungen zukommen zu lassen, die zur Verbesserung seiner Lebensqualität beitragen, auf die der Sozialhilfeträger aber … nicht zugreifen kann und die auch nicht auf die … gewährten Sozialleistungen anrechenbar sind”.
Das Amtsgericht hat die Genehmigung der Ausschlagungserklärung mit der Begründung verweigert, dass diese sittenwidrig sei. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Beteiligte zu 2) namens des Betroffenen mit der weiteren Beschwerde.
II.)
Die weitere Beschwerde ist nach den §§ 27, 29 FGG statthaft und formgerecht eingelegt. Die Beschwerdebefugnis des Betroffenen folgt aus dem Umstand, dass seine durch den Beteiligten zu 2) wirksam eingelegte Erstbeschwerde ohne Erfolg geblieben ist.
In der Sache ist die weitere Beschwerde unbegründet, da die Entscheidung des Landgerichts nicht auf einer Verletzung des Rechts beruht, § 27 Abs.1 FGG. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist das Landgericht zutreffend von einer zulässigen Erstbeschwerde ausgegangen. Auch in der Sache hält die Entscheidung der rechtlichen Nachprüfung stand. Der Senat hält lediglich eine abweichende Akzentuierung der rechtlichen Begründung für erforderlich.
Die Entscheidung richtet sich nach § 1822 Nr. 2 i.V.m. § 1901 Abs.2 und 3 BGB. Danach bedarf die Erklärung der Ausschlagung einer Erbschaft der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts; für die Entscheidung maßgeblich sind nach dem Sinn und Zweck der §§ 1821, 1822 BGB die – nicht allein objektiv zu bestimmenden – Interessen des Betreuten, wobei nicht allein seine finanziellen Interessen zu berücksichtigen sind, sondern alle Belange bei der Entscheidung Berücksichtigung finden müssen. Zum Wohl des Betreuten gehört es auch, ihm im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ein Leben nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu ermöglichen (vgl. OLG Köln ZEV 2008, 196 ).
Das Landgericht hat ein objektives Interesse des Betroffenen an der Erhaltung seines Erbteils mit der Begründung bejaht, dass dieses Interesse auch die Bestreitung des Lebensunterhalts aus eigenen Mitteln ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfe umfasse. Dieser Ansatz erscheint rechtlich nicht zweifelsfrei. Ist ein Betreuter, wie im vorliegenden Fall, zu einer auch nur ansatzweise selbstständigen Lebensführung nicht ihn der Lage, so lassen sich kleinere Annehmlichkeiten schon aus den sozialrechtlich geltenden Schonbeträgen bestreiten. Für die dann im Mittelpunkt des Interesses stehende Bestreitung der Kosten für die Heimunterbringung macht es jedoch aus Sicht des Betroffenen, wie die weitere Beschwerde geltend macht, keinen Unterschied, ob diese aus seinem Erbteil oder seitens des Sozialhilfeträgers aufgebracht werden (vgl. OLG Köln a.a.O.). Der Senat hat zwar gewisse Zweifel, ob diese rein wirtschaftliche Sichtweise des OLG Köln den durch § 1822 BGB vorgegebenen Wertungsrahmen tatsächlich ausschöpft, jedoch bedarf diese Frage letztlich keiner Entscheidung, da sich die Entscheidung des Landgerichts bereits aus anderen Gründen als jedenfalls im Ergebnis richtig erweist.
Denn bereits das Amtsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Ausschlagung hier nicht genehmigungsfähig ist, weil sie gegen die guten Sitten verstößt (§ 138 Abs.1 BGB).
Bei der nach § 1822 BGB zu treffenden Entscheidung ist zwar ausschließlich auf die Interessen des Mündels bzw. Betreuten abzustellen. Auch hat das Vormundschaftsgericht nicht die Wirksamkeit der zu genehmigenden Erklärung als solche zu prüfen. Zu prüfen hat das Vormundschaftsgericht hingegen, ob die Erklärung infolge eines Gesetzes- oder Sittenverstoßes (§§ 134, 138 BGB) nichtig ist (OLG Frankfurt NJOZ 2005, 976f m.w.N.).
Die Frage, ob die Ausschlagung einer Erbschaft durch einen Sozialhilfeempfänger bzw. dessen Betreuer, die dazu führt, dass eine bereits bestehende sozialrechtliche Hilfebedürftigkeit fortbesteht, gegen § 138 Abs.1 BGB verstößt, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet (für die jedenfalls grundsätzliche Annahme eines Sittenverstoßes OLG Stuttgart NJW 2001, 3484 = ZEV 2002, 367 ; Staudinger/Otte, BGB, Neubearb. 2008, § 1942 Rdn.22; MK-BGB/Armbrüster, 5.Aufl. § 138 Rdn.45; Palandt/Ellenberger, BGB, 68.Aufl., § 138 Rdn.50a; Diederichsen, ebendort § 1896 Rdn.20; PWW/Bauer, BGB, 2.Aufl. § 1822 Rdn.6; ablehnend LG Aachen NJW-RR 2005, 307f mit zust. Anm. NJW-Spezial 2005, 62; BeckOK-BGB/Siegmann/Hörger, Stand 2008, § 1942 Rdn.13; jurisPK-BGB/Wildemann, 4.Aufl., § 1945 Rdn.2; Mayer ZEV 2002, 369, 370; Ivo FamRZ 2003, 6ff; zweifelnd Lafontain, juris-PK, § 1822 Rdn.217ff; MK-BGB/Leipold, 4.Aufl., § 1945 Rdn.13).
Der Senat schließt sich für die hier zur Entscheidung stehende Fallgestaltung der erstgenannten Auffassung an. Die Ausschlagung einer werthaltigen Erbschaft, die dazu führt, dass ein ansonsten für eine nicht unerhebliche Zeit ausgeschlossener Sozialleistungsanspruch (§§ 2, 90 Abs.1 SGBXII) fortbesteht, verstößt gegen die guten Sitten, wenn nicht ausnahmsweise legitime Interessen des Erben geeignet sind, die Ausschlagung nachvollziehbar zu motivieren. Derjenige, der sich in der Situation befindet, dass er auf Sozialleistungen angewiesen ist, nimmt für sich die durch das Sozialstaatsprinzip verbürgte Solidarität der staatlichen Gemeinschaft in Anspruch. Nimmt er in dieser Situation einen ihm angetragenen Vermögenserwerb nicht wahr, so verweigert er umgekehrt der Gemeinschaft eben diese Solidarität, indem er rechtlich eine Bedürftigkeit vorschützt, die wirtschaftlich nicht besteht bzw. nicht bestehen müsste. Denn auch der Nachranggrundsatz des § 2 SGBXII ist Ausdruck einer umfassend verstandenen Solidarität, die praktisch nur funktionieren kann, wenn der Leistungsfähige nicht auf Sozialleistungen zurückgreift. Ein derart widersprüchliches Verhalten ist mit den guten Sitten ersichtlich nicht zu vereinbaren, es sei denn es kann im Einzelfall auf Gründe gestützt werden, die die Rechtsordnung auch bei voller Würdigung der Allgemeininteressen akzeptieren muss.
Die Argumente, die für die gegenteilige Auffassung angeführt werden, vermögen den Senat nicht zu überzeugen.
Soweit jedenfalls andeutungsweise versucht wird, die Überlegungen, die den Bundesgerichtshof bewogen haben, das sog. Behindertentestament als in der Regel sittenkonform anzusehen, auf die vorliegende Konstellation zu übertragen, geht dies fehl. Der Bundesgerichtshof (vgl. etwa BGH NJW 1994, 248ff) hat bei seinen Überlegungen zunächst die Testierfreiheit des Erblassers (Art.14 Abs.1 GG) in den Vordergrund gestellt. Danach ist dieser grundsätzlich nicht verpflichtet, bei seinem Testat auf die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit Rücksicht zu nehmen, woraus heute ganz überwiegend gefolgert wird, dass die Sittenwidrigkeit einer letztwilligen Verfügung nur ganz ausnahmsweise angenommen werden kann (Ellenberger a.a.O. Rdn.49 m.w.N.). Eine derartige Verpflichtung lasse sich dem BSHG (jetzt SGBXII) nicht, und zwar auch nicht in einer Gesamtschau der Vorschriften entnehmen. Weiter weist der BGH darauf hin, dass die bei einem typischen Behindertentestament zum Tragen kommende Motivation, die eigenen Kinder über die Möglichkeiten des Sozialrechts hinaus zu begünstigen, nicht als verwerflich angesehen werden könne, da ein derartiges Verhalten gerade der sittlichen Verantwortung der Eltern entspreche.
Liegt eine letztwillige Verfügung, die eine solche Regelung bewirkt, jedoch nicht vor, so muss der Sachverhalt aus der Sicht des Hilfeempfängers, hier des Betroffenen, beurteilt werden. Unter diesem Blickwinkel kann zunächst -vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles- nicht von einer altruistischen Motivation ausgegangen werden. Erfolgt die Ausschlagung wie hier vor dem Hintergrund der Zusage von “regressfesten” Vergünstigungen, so ist die Motivation vielmehr eigennützig. Weiter ist die Ausschlagungsmöglichkeit zwar Ausdruck der allgemeinen und vermögensrechtlichen Handlungsfreiheit (Art.2, 14 GG) des Betroffenen, diese wird jedoch, wenn es zu dem -vorläufigen- Erbanfall gekommen ist, durch die §§ 2, 90 Abs.1 SGBXII beschränkt.
Die Argumentation der Gegenauffassung läuft im Kern darauf hinaus, dass das Ausschlagungsrecht nach der Rechtsordnung dem Nachrangsprinzip des § 2 SGBXII entzogen bzw. gegenüber diesem vorrangig ist. Dieser Sichtweise kann sich der Senat jedoch aus den nachfolgenden Gründen nicht anschließen.
Nicht zu folgen vermag der Senat zunächst der Auffassung, eine Sittenwidrigkeit der Ausschlagung könne schon deshalb nicht angenommen werden, weil das Ausschlagungsrecht höchstpersönlicher Natur sei (so wohl Siegmann/Höger a.a.O.). Richtig ist zwar, dass das Ausschlagungsrecht als solches höchstpersönlicher Natur ist. Aus diesem Begriff als solchem ergibt sich jedoch keine unmittelbare Erkenntnis, inwieweit die Ausübung dieses Rechts einer Kontrolle unter dem Blickwinkel des § 138 Abs.1 BGB unterworfen werden kann (ebenso Otte a.a.O. Rdn.21). Vielmehr zeigt die Regelung des § 1822 Nr.2 BGB, dass das Ausschlagungsrecht -anders als andere höchstpersönliche Rechtshandlungen- einer Stellvertretung (im Willen) zugänglich ist. Das Ausschlagungsrecht ist danach jedenfalls nicht so stark an die Individualität der Person gebunden, dass es sich von vorneherein verbieten würde, seine Ausübung am Maßstab der guten Sitten zu messen.
Nicht überzeugend ist aus Sicht des Senats das weitere Argument, dass das Gesetz das Ausschlagungsrecht im Familien- und Insolvenzrecht von der Rücksichtnahme auf Fremdinteressen freistellt (vgl. etwa §§ 1432 Abs.1 BGB, 83 InsO).
Hinsichtlich des ehelichen Güterrechts geht das Gesetz für den Regelfall, nämlich den gesetzlichen Güterstand, davon aus, dass durch Erbgang erworbene Vermögenswerte außerhalb der ehelichen Wirtschafts- und Bedarfsgemeinschaft stehen, wie sich aus § 1374 Abs.2 BGB ergibt. Dass die Erbausschlagung abweichend von § 1365 BGB nicht der Zustimmung des anderen Ehegatten bedarf, ist daher bezogen auf die familienrechtliche Sicht folgerichtig, jedoch kann hieraus nicht abgeleitet werden, das Recht zur Erbausschlagung sei gegenüber Drittinteressen generell vorrangig.
Es verbleibt danach das Argument, der Erbe sei nach der zwangsvollstreckungs- und insolvenzrechtlichen Lage nicht gehalten, bei der Entscheidung über die Ausschlagung auf die Interessen seiner Gläubiger Rücksicht zu nehmen, weshalb er auch auf den Sozialhilfeträger keine Rücksicht nehmen müsse (so insbes. LG Aachen a.a.O.; Mayer a.a.O.; Ivo a.a.O.). Insoweit weist Otte (a.a.O. Rdn.22) jedoch zu Recht darauf hin, dass die vorliegende Fragestellung mit den “Pflichten” eines Schuldners im Verhältnis zu seinen Gläubigern nichts zu tun hat. Es geht nicht darum, ob der Sozialhilfeträger auf Vermögen des Hilfebedürftigen zugreifen darf, sondern darum, ob der (bislang) Hilfebedürftige ein ihm anfallendes Vermögen ausschlagen darf, wenn er hierdurch seine Bedürftigkeit aufrechterhält. Denn das Sozialhilferecht sieht einen Regress wegen zu Recht erbrachter Leistungen nur im Fall des § 102 SGBXII vor (Schellhorn, SGBXII, 17.Aufl., § 102 Rdn.2), der für die vorliegende Fallgestaltung jedoch nicht einschlägig ist. Es geht also allein darum, ob von dem Einzelnen auch unter sittlichen Aspekten erwartet werden muss, dass er vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfe einen ihm angetragenen Vermögenserwerb wahrnimmt. Im Hinblick auf das Prinzip der Selbstverantwortung, das das notwendige Spiegelbild der Handlungsfreiheit des Hilfesuchenden ist, muss dies bejaht werden.
Ist die Ausschlagung in der hier zu beurteilenden Situation regelmäßig als sittenwidrig zu bewerten, so ist das Landgericht, wenn auch in anderem rechtlichen Zusammenhang, zutreffend davon ausgegangen, dass die Ausschlagung hier auch nicht durch besondere Interessen des Betroffenen gerechtfertigt ist. Soweit seitens des Beteiligten zu 2) hier der Gesichtspunkt des “Familienfriedens” in den Raum gestellt worden ist, hat schon das Amtsgericht zutreffend bemängelt, dass dieser Aspekt durch keine konkreten Umstände des vorliegenden Falles ausgefüllt worden ist. Auch mit der Erstbeschwerde sind solche Tatsachen nicht dargetan worden.